Wie sich die Miesmuschel gegen Brandungswellen behaupten kann, welche Biomaterialien sie dafür einsetzt und wie viel Energie sie für ihr Überleben in der Gezeitenzone aufwenden muss, ist unglaublich. Die Miesmuschel ist genial!
Zwischen Ebbe und Flut – in der Gezeitenzone – leben besonders viele Miesmuscheln. Sie sind an die wechselnden Wasserstände bestens angepasst. Oft bilden sie grosse Bänke mit Millionen von Individuen, die bei Ebbe deutlich aus dem Wasser ragen. Sie sind an manchen Küstenabschnitten der Bretagne die dominierenden Muscheln. Man findet sie fast überall.
Das Leben in der Gezeitenzone ist aber harte Arbeit: Jedes Tier, das hier lebt, benötigt einiges an besonderen Eigen- und Errungenschaften. Es braucht einen Schutz gegen Austrocknung, gegen Hitze und gegen Kälte, es benötigt Festhaltevorrichtungen, damit es nicht von den Wellen weggespült wird... Und es muss genügend Nahrung beschaffen können. All das schafft die Miesmuschel. Sie ist ein Genie!
Miesmuscheln haften - meistens in Gruppen - scheinbar mühelos an den Felsen der Gezeitenzone. Wie machen die das bloss?
Ich habe früher schon über Muscheln geschrieben, vielleicht interessiert dich das eine oder andere, hier findest du die Artikel:
Nun aber zum Thema "Miesmuschel gegen Brandung"...
Miesmuscheln bilden Cluster, sogenannte Muschelbänke.
Die Gezeitenzone bietet der Miesmuschel auch einige Pluspunkte: Es gibt hier wegen der widrigen Umweltbedingungen weniger Fressfeinde und weniger Konkurrenten als weiter unten im Meer. Es gibt sie zwar, die Miesmuschel kann aber mit ihnen umgehen.
Miesmuschelbänke in der Gezeitenzone, ungefähr auf Mittelwasserlinie.
Auch wenn die Miesmuschel nur bei Flut fressen kann, so hat sie trotzdem genügend Nahrung, denn die Wasserbewegung ist normalerweise stark, und so kommt genügend Futter des Wegs. Miesmuscheln ernähren sich von kleinen Planktonorganismen, die im Meer der Bretagne reichlich vorhanden sind.
So beliebt die Miesmuschel – in Frankreich heisst sie «Moule» – auf dem Teller ist, so genial ist die Muschel auch gebaut.
Schau dir beim nächsten Moules-Essen die prächtige, schwarz-blau glänzende Schale der Miesmuschel mal genau an: Sie ist aussen ganz glatt und sieht aus wie ein kleiner Schiffsrumpf! Das ist kein Zufall. Je stromlinienförmiger die Muschel gebaut ist, desto weniger Zugkraft erzeugen die Brandungswellen an der Muschel, und desto weniger wahrscheinlich ist ein Abreissen vom Felsen. Die Wellen fliessen einfach über die Miesmuscheln hinweg, ohne allzu stark an ihnen zu zerren. Die Hauptwirkung der Brandung ist nicht eine Schlagenergie beim Auftreffen der Welle, sondern die Sogwirkung, die durch die Wasserbewegung entsteht.
Wenn die hydrodynamisch perfekte Miesmuschelform durch Seepockenbewuchs verschlechtert wird, besteht für die Muschel die Gefahr weggespült zu werden.
Moules leben nie alleine. Sie vernetzen sich mit elastischen Fäden mit ihren Nachbarn und bilden Muschelbänke, was den Schutz erhöht. In den Muschelbänken verfängt sich viel stabilisierendes Sediment, und Unmengen anderer Tiere können sich hier ansiedeln. Es lohnt sich, mit einer Lupe zwischen die Miesmuscheln zu gucken!
Die Muschelschalen von jungen Moules sind noch nicht mit Seepocken überwachsen.
Je nachdem, wo die Miesmuschel lebt, zum Beispiel an welchem Strandtyp, bei welchen Temperaturen, welcher Geländeneigung oder welchem vorherrschenden Wellengang, sieht sie anders aus und verhält sich auch anders. Aber nicht nur das, der Standort der Miesmuschel hat auch Einfluss auf die Fortpflanzungszeiten und die Wachstumsgeschwindigkeit!
Miesmuscheln werden häufig von Seepocken (im Bild eine Australseepocke) überwachsen, was ihren Überlebenschancen nicht zuträglich ist.
Je stärker die Brandung, desto grösser ist das Risiko, dass eine Miesmuschel losgerissen oder ihre Schale beschädigt wird. Miesmuscheln können auf dieses Risiko reagieren, sie sind ihm nicht hilflos ausgesetzt. Bei einem am Felsen festgewachsenen Tier, das sich nicht vom Fleck bewegen kann, hätte man eher die Vermutung, dass es kaum auf Umwelteinflüsse reagieren kann. Zum Glück hat die Natur immer wieder Überraschungen auf Lager!
Miesmuscheln passen die Stärke ihrer Verankerung am Felsen an: Sie «kleben» mit ihren Byssus-Fäden – einem zähen, hornartigen Material – am Felsen fest. Je mehr Byssus-Fäden die Muschel für die Verankerung einsetzt, desto stabiler sitzt sie auf dem Untergrund.
Byssus ist ein Natur-Polymer und einem normalen Zerfall unterworfen. Die Fäden müssen von Zeit zu Zeit ersetzt werden. Der Ersatz der Byssus-Fäden kann 10-15% des gesamten Energiehaushalts der Muschel ausmachen! Schon daran sieht man, wie wichtig eine gute Verankerung ist.
Byssus (oder griechisch Byssos) wird auch Muschelseide genannt. Und tatsächlich wurden früher aus Byssus - vor allem von demjenigen der mediterranen Steckmuschel - Textilien gemacht. Das ist eine unglaublich aufwendige und teure Arbeit. In Sardinien gibt es noch ein paar letzte Meerseide-Verarbeiterinnen.
Byssus ist das Sekret aus den Fussdrüsen verschiedener Arten von Muscheln. Das tönt zunächst nicht sehr appetitlich... Aber: Der Fuss der Muscheln ist ein muskulöses, zungenförmiges Organ, mit dem sich grabende Muscheln eingraben oder im Boden verankern können. Bei der Miesmuschel, der Steckmuschel oder auch der Wander- oder Zebramuschel in unseren einheimischen Süssgewässern dient der Byssus ausscheidende Fuss dem Befestigen am Untergrund. Die Sekrete mehrerer Drüsen produzieren vor allem sogenannte phenolische Proteide, die zu Haftfäden polymerisiert werden und erhärten. Das entstehende Biomaterial ist sehr zäh, dehnbar und reissfest. Viele Muschelarten können nur als Jungmuscheln Byssus produzieren, bei anderen - wie der Miesmuscheln - dauert diese Fähigkeit zeitlebens an.
Die Byssusfäden verankern die Miesmuschel zwar fest, aber auch elastisch. So werden die "Stösse" der Brandung aufgefangen.
Zudem können sich Miesmuscheln aktiv «festzurren». Sie erreichen die Straffung der Byssus-Fäden durch die Muskeln des Fusses, die die Byssus-Drüse weiter ins Schaleninnere ziehen.
Die Muschel investiert nach der strömungsgünstigen Form und des elastischen Haltefäden noch in eine dritte Versicherung, nämlich die Dicke ihrer Schale. Aber auch dieses Unterfangen ist teuer, da 25 bis 50% der gesamten Energie des Muschelstoffwechsels in den Aufbau der Schale investiert werden. Da bleibt nicht mehr viel für Verdauung, Fortpflanzung oder Spass 😊. Wie die Schale funktioniert und wie sie aufgebaut ist kannst du hier nachlesen.
Küsten mit starker Strömung und hoher Wellenenergie haben bei allen Nachteilen für die Miesmuschel einen entscheidenden Vorteil: Das stark bewegte Wasser bringt in der Regel einen grossen Wasserfluss und damit auch viel Nahrung mit sich. Allerdings nur bei Flut, bei Ebbe muss eine Moule fasten.
Die Verfügbarkeit von Plankton ist denn wahrscheinlich auch der wichtigste Faktor, der das Wachstum der Miesmuschel beeinflusst. Damit Wachstum und Fortpflanzung stattfinden können, muss die als Nahrung aufgenommene Energie die Aufwendungen der «Wartung» und Sicherung übersteigen. Es lohnt sich für die Muschel offenbar, einen Kompromiss zu suchen. Ist sie wohl eine Schweizerin? Auf jeden Fall wächst sie an «mittel-schwierigen» Orten am besten, dort also, wo sie zwar viel in Verankerung und Stabilität zu investieren hat, gleichzeitig aber auch viel fressen kann. Wie eine Bank... Der Ertrag an Plankton-Nahrung überwiegt dann eben die Nachteile. An Orten mit extremer Brandung haben die Muscheln keine Chance gegen die Energie des Meeres, sie werden beschädigt und verletzt oder weggerissen und in tiefere Wasser getragen, wo sie nicht mehr lange leben können. In sehr ruhigen, geschützten Meeresbuchten wiederum hungern sie und wachsen kaum.
Miesmuscheln können ihre Hauptfeinde, die Purpurschnecken, mit den Byssus-Fäden immobilisieren; Sie kleben sie einfach fest. Manchmal dauert die «Fesselung» Tage oder Wochen, mitunter solange, bis die räuberischen Schnecken verhungert sind!
Die Nordische Purpurschnecke Nucella lapillus lebt räuberisch von Seepocken und Miesmuscheln, die sie mit ihrer Raspelzunge und Säure aufbohrt.
Es gibt diverse Strategien der Miesmuschel gegen die Brandung und ihre schädlichen Effekte anzukommen. Fast jede der vielen hundert Tierarten der bretonischen Küste haben ähnlich komplexe Strategien entwickelt, um in der Gezeitenzone leben zu können. Sie ist deshalb einer der faszinierendsten Lebensräume überhaupt und für das Meer eminent wichtig. Die Küsten müssen gesund bleiben!
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