Im oberen Bereich der Gezeitenzone und darüber wachsen auf den Felsen Beläge von Meeresflechten. Flechten sind kuriose Mischwesen. Sie gehören weder zum Reich der Pflanzen noch zu den Tieren und auch den Bakterien kann man sie nicht zuordnen. Es sind ziemlich spezielle Pilze!
Ob Weltall, Eis oder Wüste: Flechten schaffen's (fast) immer Man trifft sie in sibirischer Kälte ebenso wie in den Tropen oder auf hohen Berggipfeln. Auch die rauhen Felsen einer Meeresküste können ihnen nichts anhaben, Sümpfe, Moore und Wüsten werden von ihnen besiedelt. Sogar im Weltraum können manche Arten eine gewisse Zeit ungeschützt überleben! Aber im Meer ist praktisch Schluss mit Flechten. Auch in der Gezeitenzone gibt es Flechten. Wir nennen sie hier einfach einmal Meeresflechten. Oft werden sie auch marine Flechten genannt. Der Ausdruck ist aber irreführend, denn im Meer gibt es unterhalb der Gezeitenzone keine Flechten. (Wie die Gezeiten funktionieren erfährst du hier.)
Ein Meeresflechte im Grenzbereich: Lichina confinis wird in der Gezeitenzone fast täglich von Meerwasser überflutet.
Sie bestehen aus mindestens zwei komplett verschiedenen Lebensformen: Immer ist ein Pilz mit von der Partie, der für den «Körper» sorgt. Wir nennen diesen ersten Partner den Mykobionten. Der zweite Partner wandelt Licht in Kohlenhydrate um, betreibt also Photosynthese und heisst deshalb auch Photobiont. Er kann eine Alge sein oder auch eine Cyanobakterie (früher hiessen diese Blaualgen). Der Pilz sorgt mit seinem Fadengeflecht für optimale Bedingungen für die Alge, diese betreibt im Gegenzug Photosynthese und ernährt damit den Pilz.
Flechten sind keine Pflanzen, sie gehören zu den Pilzen. Und auch dort nehmen sie eine exotische Sonderstellung ein.
Je nach Wuchsform und Auflagefläche unterscheidet man zwischen:
Die Wuchsform hat aber nichts mit der Systematik der Pilze zu tun. Es gibt also Krusten- oder Strauchflechten aus ganz verschiedenen Verwandtschaften.
Ob krustig oder bärtig, grau, braun oder gelb, ob glatt oder rau, an den bretonischen Fels-Küsten gedeiht eine grosse Vielfalt von Flechten. Sehr ästhetisch, n'est-ce pas?
Mehr als 20 Prozent der bekannten Pilzarten leben mit einer Alge oder einer Cyanobakterie in einer Flechtensymbiose. Wer hätte das gedacht!
Die Pilze der Meeresflechten gehören zu der Verwandtschaft der Schlauchpilze. Das tönt fremd? In dieselbe Verwandtschaft gehört auch die Bäckerhefe, viele Schimmelpilze, aber auch Leckereien wie Morcheln oder Trüffeln!
In 85 Prozent der Fälle ist der Photobiont eine winzige Grünalge. Sie kann jeweils aus einer einzigen Zelle (einzellige Grünalge) oder wenigen Zellen bestehen. Ungefähr 80 Arten von Partner-Grünalgen sind bekannt.
Flechten haben prächtige - fast schon leuchtende - Namen: An der Küsten der Bretagne heissen die wichtigsten Arten Caloplaca marina, Hydropunctaria maura, Lichina confinis, Lichina pygmaea, Ochrolechia parella, Ramalina siliquosa, Tephromela atra oder Xanthoria parietina. Ich finde das tönt ziemlich abenteuerlich.
Die ebenfalls leuchtenden Farben sind ein Licht- und UV-Schutz; sie werden vom Pilz geliefert und schützen den Photobionten.
Meist siedeln die farbenfrohen Meeresflechten in genau definierten Zonen des Gezeitenbereichs, denn ihre Toleranz gegenüber Meersalz ist von Art zu Art unterschiedlich. Die robustesten Arten können sogar mehrere Stunden im Meerwasser überleben, andere ertragen lediglich periodische salzige Meeresgischt.
Manche Flechten sehen aus wie Krusten aus Kalk; man würde niemals dermassen faszinierende Lebewesen dahinter vermuten! (Das Foto vergrössert deutlich)
Manchmal kommen Grünalgen und Cyanobakterien auch zusammen in einer Flechte vor. Alle pflanzlichen Untermieter der Flechten gibt es in der Natur auch ohne Pilzpartner. Umgekehrt gilt das nicht: Die Pilzpartner findet man nie ohne ihren «domestizierten» Photobionten. «Entflechten» lassen sich die Flechtenpartner nur im Labor. Dabei hat sich gezeigt, dass die Algen und Cyanobakterien wieder ihr ursprüngliches Aussehen annehmen und wieder als freilebende Arten existieren können. Die Pilze hingegen verlieren ihre Gestalt als flechtenbildenden Körper und werden zu unförmigen Pilzgeflechthäufchen.
Man muss nicht unbedingt von Symbiose zwischen Pilz und Photobiont sprechen, man könnte die Gemeinschaft problemlos auch «kontrollierten Parasitismus» nennen. Wie eine Wohngemeinschaft mit einem Patriarchen. Das wäre dann der Pilz.
Die Flechte kann mehr, als ihre jeweiligen Komponenten. Erst mit der Symbiose entstehen die flechtentypischen Wuchsformen, und Flechten sind bei extremen Umweltbedingungen robuster als Pilze oder Algen alleine.
Die Vorteile liegen jedenfalls zum Hauptteil beim Pilz. Er hat zwar viel Arbeit: Er kontrolliert das Wachstum und die Zellteilungen der Alge, und er hegt und pflegt sie. Der Pilz schützt seine Algen vor Austrocknung. Er umspinnt sie mit seinem Pilzgeflecht und gibt ihnen damit Stabilität. Er versorgt sie mit Wasser. Eigentlich ist die Alge in seinem Körper eine «domestizierte Pflanze», eine Art Nutzpflanze also. Diese ganzen Aufwand betreibt der Pilz, damit ihm die Algen genügend Nahrung liefern können. Das ist in der Regel Zucker - oder Zuckeralkohole. Davon lebt der Pilz. Und genau deshalb können Flechten dort gedeihen, wo es keine oder nur wenige Nährstoffe gibt: auf nackten Felsen, auf Baumrinde oder an salzigen Küsten.
Flechten können ihren Wasserhaushalt nicht regeln. Sie haben keine Wurzeln, die aktiv Wassser aufnehmen könnten. Und auch gegen Verdunstung können Flechten nicht viel ausrichten. Wenn aber nach einem Regen Wasser zur Verfügung steht, können Flechten wie ein Schwamm in relativ kurzer Zeit viel Wasser aufsaugen. Nebel reicht dazu auch schon, oder hohe Feuchtigkeit.
Eine Meeresflechte muss nicht nur mit wechselnden Wasserständen zurecht kommen, sie muss auch das Meersalz ertragen. Pilze können dies meist nicht gut, deshalb gibt es im Meer sehr viel weniger Pilze als an Land.
Bei Trockenheit müssen - oder vielmehr können - Flechten in einen halbtoten Zustand wechseln, bei dem sie weder Photosynthese betreiben noch viel Energie verbrauchen. Flechten können so bis zu 90 Prozent ihres Wassergehalts verlieren ohne zu sterben.
Im ausgetrockneten Zustand können sie so Extremsituationen wie ausserordentliche Hitze oder Kälte oder hohe Strahlungsintensität überdauern.
Eine solche Ruhestarre ist besonders in kalten Gebieten sehr praktisch, da gefrorenes Wasser für den Stoffwechsel ja nicht verfügbar ist. Es gibt Wüstenflechten, die nach 40 Jahren im ausgetrockneten Zustand durch Befeuchtung «wieder zum Leben erweckt» werden können. Die erneute Wasseraufnahme reaktiviert den Stoffwechsel.
Der Lebensrhythmus ist auch Ursache für das bisweilen sehr langsame Wachstum mancher Flechten. Manche Krustenflechten wachsen pro Jahr nur wenige Zehntel-Millimeter, Laubflechten meist weniger als einen Zentimeter. Zum langsamen Wachstum trägt die ungleiche Symbiose bei: Die Alge, der Photobiont, nimmt nur wenige Prozent des Flechtenvolumens ein, ist aber allein für die Ernährung der gesamten Flechte zuständig!
Das üppigste Wachstum von Flechten ist in subtropischen Nebelwäldern und an den Meeresküsten zu verzeichnen: Dort herrschen nur geringe Schwankungen der Luftfeuchtigkeit und ausgeglichene Temperaturen, und dies sorgt für optimale Wachstumsbedingungen.
Die gewöhnliche Gelbflechte Xanthoria parietina ist von leuchtendem Gelb. Im Inland kommt sie gehäuft in Gebieten mit hohem Nährstoffgehalt vor.
Die Robustheit der Flechten, die durch die aussergewöhnliche Symbiose zustande kommt, erschliesst ihnen extreme Lebensräume. Im Himalaya leben Flechten noch in 5000 Metern Höhe. Es gibt sogar Flechten, die auf blankem Eis wachsen! In Permafrostgebieten überstehen sie in Trockenstarre Temperaturen zwischen -45°C und +80°C. Selbst in der Antarktis ist eine grosse Flechtenvielfalt - es sind mehr als 200 Arten! - zu finden.
Flechten wachsen auf den unterschiedlichsten Untergründen wie Baumrinde, Felsen, Böden, verrostetes Metall, Malerfarbe oder Kunststoffe. Oft sind sie sogenannt substratspezifisch, das heisst, sie gedeihen nur auf gestimmten Untergründen: manche auf Kalkstein oder Dolomit, andere nur auf saurem Silikatgestein wie Quarz, Gneis oder Basalt.
Je näher man den Flechten betrachtend rückt, desto schöner werden sie: Scheinen sie aus der Ferne noch fahl und gräulich, kommen von Nahe bunte Ornamente mit fantastischer Leuchtkraft und bizarrer Struktur zum Vorschein.
3 Kommentare
Beste grüße
Lorenz Flamm
Ja, schicke mir doch die Bilder (entschuldige bitte die verspätete Antwort.)
LG Thomas
Wie alle deine bisherigen Blogs hochinteressant. Jetzt werden für mich die Flechten auf Steinen und an Bäumen noch interessanter.
Was denkst du?